„Wenn ich auch nur einem einzigen Kind helfen kann …“
Beiräte treten öffentlich kaum in Erscheinung. Sie wirken im Hintergrund und beraten sowohl den Stadtrat als auch die Stadt. Ihre Fachkompetenz trägt dazu bei, dass Entscheidungen auf einer fundierten Grundlage getroffen werden. Aber wer sind diese ehrenamtlichen Ratgeber? Lernen Sie die Menschen kennen, die sich für das BSW dieser Aufgabe stellen. Heute: Kati Nguyen Ngoc (58) ist vierfache Mutter, hat viel durchgemacht und gehört dem Beirat für Menschen mit Behinderungen an. Hier spricht sie darüber, was diese Aufgabe für sie bedeutet und was die Geschichte dahinter ist.
Mein Mann Trung ist in den 1980er Jahren als Gastarbeiter aus Vietnam in die DDR gekommen. Damals war er Betriebsschlosser, heute ist er Fachinformatiker. Wir haben uns 1986 kennengelernt und 1990 geheiratet. Von unseren vier inzwischen erwachsenen Kindern sind zwei schwerstbehindert: Sandra und Tobias. Ich habe deshalb viel Erfahrung mit Ärzten, Schulen, Ämtern und Gerichten gesammelt. Sammeln müssen, denn es war von Anfang bis Ende ein Kampf, dass sie entsprechend ihren Möglichkeiten gefördert wurden.
Bei unserem jüngsten Sohn Tobias, der heute 30 ist, fing das schon damit an, dass er als kleiner Junge im Rollstuhl saß. Die Ärzte haben uns gesagt, er sei austherapiert und würde weder laufen noch sprechen lernen. „Schieben Sie Ihr Kind im Rollstuhl auf den Spielplatz und genießen Sie die Sonne“, wurde uns geraten. Aber damit haben wir uns nicht abgefunden und eine Langzeit-Elektroakupunktur an einer Klinik in Vietnam gemacht. Nach zwei Monaten Therapie sind wir ohne den Reha-Buggy nach Deutschland zurückgekehrt. Meine vietnamesische Schwiegermutter, die selbst an leitender Stelle im Gesundheitssystem tätig war, hat damals gesagt: Wo eure Ärzte aufhören, fangen wir erst an.
Tobias war dann Kreismeister im Judo. Bis wir erfahren haben, dass er nicht mehr fallen darf. Seine Gehörlosigkeit, das ist eine sogenannte Mondini-Dysplasie, eine Fehlbildung des Innenohres. Und mit jedem Sturz auf den Kopf wird es schlimmer, was zum kompletten Hörverlust führen kann. An die Stelle von Judo ist deshalb Schwimmen getreten.
Fehler im System
Die Schullaufbahn von Tobias ist auch eine Geschichte für sich. Er ist rein aufgrund seiner Diagnose in eine Schule für Schwerstgeistig- und Mehrfachbehinderte eingeschult worden. Ich habe dann erstmal dafür gesorgt, dass er an eine Schule für Kinder mit „normalen“ geistigen Behinderungen kommt. Wer einmal an einer sogenannten G-Schule – das G steht für Geistigbehinderte – ist, der bleibt in der Regel auch dort. Mein Sohn gehörte da aber nicht hin, das war ein Fehler im System. Ein Test hat später ergeben, dass er einen IQ von 116 hat.
Ich habe Tobias parallel zu Hause unterrichtet. Nach sieben Jahren G-Schule kam er in Dresden in die Hörgeschädigtenschule, aber zunächst in die vierte Klasse, weil er ja keinen Grundschulabschluss hatte. Dank des Unterrichts zu Hause hat das wiederum ganz gut geklappt.
In der sechsten Klasse hat ihn dann die christliche Schule genommen, das war also keine Förderschule mehr, sondern ein ganz normaler Bildungsgang. Tobias hat nach der zehnten Klasse seinen Hauptschulabschluss am Förderzentrum Leutewitzer Park gemacht, war anschließend anderthalb Jahre an der Freien Alternativschule Dresden und hat in der Covid-Zeit seinen Realschlussabschluss an der Abendoberschule abgelegt. Danach ist er an die Semper Fachoberschule Dresden, Fachrichtung Gesundheit & Soziales, gewechselt, die er nach der zwölften Klasse mit dem Fachabitur abgeschlossen hat. Am 1. September tritt er sein Studium in Kindheitspädagogik an. Er will damit auch etwas am System verändern.
„Ihr Sohn hat Freude am Lernen“
Wir wollten immer nur für unser Kind da sein. Was denken Sie, was wir uns über die Jahre alles anhören mussten? „Er kann doch im China-Restaurant arbeiten“, war zum Beispiel so ein dummer Spruch im Schulamt, wo man nicht verstehen wollte, warum wir uns um einen guten Schulabschluss bemüht haben. Und das war kein missglückter Scherz, sondern voller Ernst. Denen musste ich erstmal erklären, dass mein Sohn lernen will. Bei manchen Eltern ist es ja so, dass sie die treibende Kraft hinter den Lernanstrengungen sind und mit ihrem Ehrgeiz ihre Kinder überfordern. Aber Tobias wollte immer lernen.
Seine letzte Lehrerin an der Semper-Schule hat uns erzählt: Ihr Sohn strahlt, wenn er früh zur Schule kommt. Bei anderen Kindern hat man den Eindruck, die wurden von ihren Eltern gezwungen. Aber Ihr Sohn hat wirklich Freude. Und wir freuen uns mit. Denn dafür sind wir Lehrer geworden, dafür stehen wir jeden Morgen auf.
Als Gehörloser eine Eins in Literatur zu schaffen, das ist schon eine Leistung.
Und als mein Mann ihm jetzt gesagt hat, dass das Studium aber sehr schwer wird und ob er sich das nicht noch mal überlegen will, da flogen die Hörgeräte an die Wand. Unser Sohn will studieren, unbedingt. Und wir unterstützen ihn. Wenn wir nicht so gekämpft hätten, dann wäre er längst ausgebremst worden und wohl in einer Behindertenwerkstatt gelandet.
Ein Plädoyer für Inklusion
Vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen habe ich mich gemeldet, das BSW im Stadtratsbeirat für Menschen mit Behinderungen zu vertreten. Wenn ich auch nur einem einzigen Kind die Odyssee meines Sohnes ersparen kann, dann ist es das schon wert gewesen. Nicht alle Muttis haben die Zeit und die Nerven, die entsprechenden Gesetze zu wälzen und sich mit den Paragrafen vertraut zu machen, so wie ich das getan habe. Ich habe sogar die Gerichtsverhandlungen zum Teil selbst geführt.
Dabei muss man auch bereit sein, über den eigenen Schatten zu springen. Ich war zum Beispiel immer gegen Inklusion, weil ich dachte, Kinder wie mein Sohn gehören an Förderschulen, weil dort das Fachpersonal ist, weil nur wenige Kinder in einer Klasse sind und sie alle Möglichkeiten haben, sich zu entwickeln. Aber ich wurde eines Besseren belehrt. Die Lehrer an seiner Förderschule waren nicht ausreichend in Gebärdensprache ausgebildet, so paradox das klingt. Damit haben es Gehörlose schwer, dem Unterricht zu folgen. Bereits nach unserer Zeit dort wurden nach einem Treffen von Eltern mit Ministerpräsident Kretschmer Dolmetscher eingestellt. Aber nach zwei Jahren war wieder alles beim Alten.
Inklusion war deshalb unsere einzige Chance, auch wenn ich sie nie wollte. Mein Sohn ist damit gut gefahren, dank der Aufnahme in die christliche Mittelschule spricht er heute viel besser als früher und hat sich durch den Kontakt mit lautsprechenden Kindern unwahrscheinlich schnell entwickelt. Schreiben konnte er ohnehin ganz normal, auf Deutsch und Englisch.
Ich bin heute sehr für Inklusion, sie muss gefördert werden. Und ganz klar: Ohne die verschiedenen Privatschulen wäre mein Sohn nie dorthin gekommen, wo er jetzt ist. Aber was ist mit denen, die sich keine Privatschule leisten können? Da muss man ansetzen, da muss der Staat in Form von Beihilfen o.ä. etwas tun.
Kaum Raum für Diskussion
Aber was ich im Beirat erlebe, ist ehrlich gesagt frustrierend. Mein Eindruck ist, dass wir alles nur abnicken sollen. Man kommt auch kaum zu Wort. Stattdessen gibt es lange Vorträge von geladenen Gästen. Und im Allgemeinen geht es darum, wo überall gespart werden muss, nicht darum, was man verbessern könnte. Veränderung ist gar nicht gewollt. Das finde ich schade. Denn eigentlich sitzt man ja dort, um etwas für Menschen mit Behinderung zu tun. Und nicht, um sich anzuhören, wofür alles kein Geld da ist. Nur damit dass dann ein bisschen demokratischer aussieht.
Neulich ist eine Frau von Team Zastrow nach der Beiratssitzung an mich herangetreten. Während der Sitzung hatte sie scheinbar nicht den Mut, mir zu sagen, was sie dann gesagt hat, nämlich: Ich gebe Ihnen zu 100 Prozent recht, aber Sie kommen besser, wenn Sie nur für Ihr eigenes Kind kämpfen. Ja, das weiß ich. Aber ich bin in den Beirat gegangen, um auch für andere Kinder zu erreichen, was uns mit Sandra und Tobias gelungen ist.
Meine Hoffnungen ruhen auf dem BSW. Sahra Wagenknecht habe ich schon seit meiner Jugend unheimlich bewundert. Sie war für mich immer ein großes Vorbild. Der Weg, den sie geht, ist genau der richtige. Ich stehe voll hinter dieser Politik. Früher habe ich mich von keiner Partei irgendwie vertreten gefühlt. Heute weiß ich, wen ich ganz bewusst wähle und wo ich mich engagiere.
„Ein rotes Tuch für das Schulamt“
Der Mann von Kati, Trung Nguyen Ngoc, ist ihr Stellvertreter im Beirat für Menschen mit Behinderungen. Er lebt seit 42 Jahren in Deutschland, einmal im Jahr geht es für die Familie in seine Heimat Vietnam. Trungs Mutter war bis zu ihrer Rente Chefärztin und Direktorin im Gesundheitszentrum des Gesundheitsministeriums in Hanoi, sein Vater Abteilungsleiter im Kulturministerium. Damit hätten die Eltern zwar nicht zu den „oberen Zehntausend“ gehört, sagt er, aber zur Mittelschicht, und ein gutes Auskommen gehabt.
Noch hat Trung keinen deutschen Pass, weil die doppelte Staatsbürgerschaft erst neuerdings möglich ist. Aber sein Antrag läuft. Zu den familiären Erfahrungen mit der Behindertenpolitik in Dresden sagt er: „Wir sind ein rotes Tuch für das Dresdner Schulamt. Für unsere Kinder haben wir viel erreicht, aber das waren Einzelfälle. Solange das nicht öffentlich wird, geht es. Die Behörden wollen vor allem keine Präzedenzfälle, sie haben Angst, dass so etwas weite Kreise zieht und sie viel Geld bezahlen müssen.“